Interview mit MAS-Abgeordnetem aus Bolivien
veröffentlicht am 24.01.05 von Stefan Freudenberg
(Berlin, 9. Januar 2005, npl).- Die „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) hat große Aussichten, mit Evo Morales den nächsten Präsidenten Boliviens zu stellen. Seit den Kommunalwahlen im Dezember 2004 besetzt die Linkspartei zwei Drittel der Bürgermeisterämter des Landes. Sie ist damit zur stärksten politischen Kraft geworden. Aus den Reihen der schlagkräftigen sozialen Bewegungen mehren sich jedoch die kritischen Stimmen gegenüber der Politik der MAS. Ivan Morales ist Abgeordneter für die MAS im bolivianischen Parlament. Mit ihm sprach Stefanie Kron am 9. Januar in Berlin.
?: Wie beurteilen Sie das Verhältnis zwischen der Bewegung zum Sozialismus und den sozialen Bewegungen? Unterstützt die MAS die aktuellen sozialen Proteste gegen die Erhöhung der Brennstoffpreise und die Privatisierung des Wassers in den Großstädten El Alto und La Paz?
!: Wir unterstützen diese Proteste ohne Einschränkungen. Wenn es darum geht, Druck auf die Regierung auszuüben, koordiniert sich die politische Leitung der MAS nach wie vor mit den sozialen Bewegungen. Aber unser Ziel ist es, bei den allgemeinen Wahlen 2007 an die Regierung zu kommen. Und in den städtischen Gegenden ist der Einfluss der sozialen Bewegungen gegenüber den bürgerlichen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen eingeschränkter. Deshalb versuchen wir, die urbane Mittelschicht zu erreichen.
?: Der MAS wird von Vertretern sozialer Organisationen und Gewerkschaften vorgeworfen, sie stehe der Ãœbergangsregierung von Carlos Mesa bereits näher als den sozialen Bewegungen.
!: Natürlich haben wir Verbindungen zur Regierung. Dort setzen wir uns für eine Politik ein, die der Bevölkerung zugute kommt und die Souveränität und Selbstbestimmung des bolivianischen Staates gegenüber den transnationalen Unternehmen und externen Akteuren begünstigt, die das Land unter Druck setzen. So haben wir uns beispielsweise für einen Gesetzesentwurf stark gemacht, der dem Staat gegenüber den ausländischen Konzernen mehr Einfluss bei der Förderung und Vermarktung der fossilen Brennstoffe ermöglicht.
? Geht diese Politik der MAS auf Kosten der Sympathie der sozialen Bewegungen?
!: In vielen Fällen stehen die sozialen Bewegungen hinter uns, wenn wir mit der Regierung zusammen arbeiten. So beispielsweise in der Frage um die Legalisierung des Kokaanbaus in der Region Chapare. Im Oktober des vergangenen Jahres erreichten wir ein Abkommen zwischen den Organisationen der Kokabauern und der Regierung, das erstmals eine legale Anbaufläche für Koka vorsieht und eine Entkriminalisierung der Kokabauern bedeutet. Aber ich gebe zu, dass die sozialen Bewegungen in anderen Fällen die Zusammenarbeit der MAS mit der Regierung kritisiert haben.
?: So sind bereits Stimmen laut geworden, die der MAS und insbesondere Evo Morales Verrat vorwerfen. Welches Gewicht hat diese Kritik?
!: Der Wahlerfolg der MAS bei den Kommunalwahlen im vergangenen Dezember zeigt, dass wir trotz kritischer Stimmen nicht an Popularität bei den sozialen Bewegungen eingebüßt haben. Im Gegenteil. Einer der wichtigste Kritiker der MAS ist Roberto de la Cruz von der Regionalen Arbeiterzentrale COR in El Alto. Und sein spezifisches Gewicht in der Stadt ist nicht zu unterschätzen. Trotzdem erhielt er dort weniger Stimmen als der Vertreter der MAS.
Ein anderer Kritiker der MAS ist Felipe Quispe. Er vertritt die Vereinigung der Hochlandbauern CSTUB und zog nach den Wahlen 2002 für die indigenistische Partei MIP als Abgeordneter ins Parlament ein. Seither legt er jedoch eine höchst widersprüchliche Haltung an den Tag. Vergangenes Jahr ist er von seinem Posten als Abgeordneter zurückgetreten, mit dem Argument, man müsse aus dem Schema der Parteipolitik ausbrechen und den Kampf in anderen Räumen und mit anderen Akteuren weiterführen. Trotzdem trat auch er zu den Kommunalwahlen an, die ja ebenfalls ein politisches Verfahren der bürgerlichen Demokratie sind. Seine Partei gewann jedoch nur in einem einzigen Bezirk im Department von La Paz.
Die Organisationen der sozialen Bewegungen, die die MAS kritisieren, sind also entweder regionale Kräfte, wie die COR und die Vereinigung der Hochlandbauern, oder es sind radikale Positionen von trotzkistischen Gruppen, die nur eine sehr marginale Bedeutung haben.
?: Was bedeutet der Erfolg der MAS bei den Kommunalwahlen für die Wahlen 2007?
! Wir haben die bürgerlichen und neoliberalen Parteien aus den lokalen Regierungen verdrängt. Das bedeutet, dass wir ihre Macht beschneiden konnten, aber noch nicht, dass wir sie entmachtet haben. Das ist nun unsere Herausforderung. Wir sehen zwei wichtige Aufgaben auf uns zukommen: Erstens wollen wir eine Dezentralisierung der Entscheidungsverfahren und mehr Möglichkeiten der Partizipation für die Bevölkerung erreichen. Und zweitens müssen wir daran arbeiten, von der öffentlichen Meinung als ernsthafte politische Option anerkannt zu werden – insbesondere von der Mittelschicht.
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