El Salvador rutscht weg

veröffentlicht am 5.10.05 von Stefan Freudenberg

Heute morgen erreichte uns ein Bericht aus El Salvador über die Lage nach den durch Hurrikan Stan ausgelösten Erdrutschen in dem zentralamerikanischen Land. Zu den Folgen des Hurrikans, der in der gesamten Region zahlreiche Menschenleben gefordert hat, gesellt sich in El Salvador auch noch der Ausbruch eines Vulkans. Aus San Salvador berichtet Ulf Baumgärtner von der Flüchtlingshilfe Mittelamerika.

Bis zu den Abendnachrichten am Dienstag, 4.Oktober 2005, ist die Zahl der Toten auf Grund des anhaltenden Regens und des Ausbruches des Vulkans Llamtepec (Santa Ana) auf 50 angestiegen. An die 15.000 Menschen haben Zuflucht in albergues (Notunterkünften) der Regierung, vor allem Schulen (der Unterricht ist bis auf Weiteres suspendiert), und von Nichtregierungsorganisationen Zuflucht gesucht. Eine detaillierte Statistik der Erdrutsche gibt es nicht — sie passieren fast stündlich und in fast allen Ecken des Landes. Die Regierung hat den nationalen Notstand ausgerufen.

Fast alle Toten dieser Katastrophe sind Opfer von Erdrutschen. Es liegt auf der Hand, dass es zwischen hohen Niederschlägen und Erdrutschen allenfalls einen direkten kausalen Zusammenhang gibt; das heißt wir haben es einmal mehr mit einer man-made Katastrophe zu tun.

Zum einen versiegeln Abholzung und wilde Bebauung den Boden, der Regen kann nur noch zu einem geringen Teil in den Boden eindringen, das Wasser läuft oberflächlich ab. Dadurch schwellen die Bäche und Flüsse unglaublich schnell zu reißenden Strömen an und die reißen mit sich, was an Boden und Gebäuden nicht niet- und nagelfest ist. Überschwemmungen und Erdrutsche sind also zwei Seiten ein und derselben Medaille. Dort wo im Zuge des Straßen- und Siedlungsbaus das Gelände aufgeschnitten wurde, stürzen dann die Erdwälle auf die darunterliegenden Siedlungen. Dasselbe passiert, wenn in Hanglagen die vom Regen aufgeweichte Erde und das Oberflächenwasser nicht mehr von der Vegetation aufgehalten wird.

Zum anderen leben wegen der Bodenkonzentration, einer Form der extrem ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung in El Salvador, und wegen vorhergegangener Katastrophen dieser Art immer mehr Menschen in prekären Verhältnissen an Orten, die eigentlich nicht bewohnbar sind, vor allem an den Steilhängen der quebradas, der von Bächen und Flüssen gebildeten Schluchten, und im Randbereich von Straßen- und Wohnungsbauprojekten, z.B. am Fuße der erwähnten Erdwälle.

Nur weil beim Regensturm vor einer Woche, als die Barrios La Candelaria und La Vega am Acelhuate-Fluss (genauer gesagt an der Kloake diesen Namens) in San Salvador nach einer halben Stunde unter Wasser standen, auch einzelne Teile des Reichenviertels San Benito überschwemmt wurden, kann man nicht sagen, dass die Naturkatastrophe Arme und Reiche gleichermaßen trifft. Vielmehr hat der urbanistische Wildwuchs San Salvadors und seines Großraumes durchaus seine soziale Ordnung: die Reichen pflegen an Stellen zu leben, an denen es erfahrungsgemäß weniger Überschwemmungen während der Regenzeit gibt, die weniger erdbebengefährdet sind, die weniger luft- und wasserverschmutzt sind, weniger heiß sind und womöglich auch noch schöne Ausblicke bieten.

Weil aber die natürliche Topographie von San Salvador von zahlreichen quebradas geprägt ist, die vom San-Salvador-Vulkan und vom Cerro San Jacinto Richtung Rio Lempa laufen, und das Hochtal, in dem die Stadt liegt, voller tektonischer Verwerfungslinien ist, leben mitten in den Reichenvierteln, nämlich an den Hängen der sie durchziehenden quebradas, Arme und lässt sich die soziale Ordnung der wildwüchsigen Stadtplanung nicht durchgängig organisieren.

Ãœberall wo große Gruppen von Menschen unter prekären Verhältnissen an Stellen leben, die eigentlich nicht bewohnbar sind oder in wilden Siedlungen ohne Grundeigentumstitel, und viele dieser Siedlungen und Stellen sind jetzt von den Überschwemmungen und Erdrutschen betroffen, lassen sich die Leute nicht gerne evakuieren und schon gar nicht umsiedeln, denn der Wohnort ist das Zentrum ihres Lebens im Elend. Hier ist ihr bescheidenes Vermögen angesiedelt, dass sie nicht den Plünderern überlassen wollen und hier haben sie sich oft im Laufe einer Generation Gelegenheitsarbeitsplätze aufgebaut. Das gilt für die gefährdeten Standorte im Ballungsgebiet von San Salvador, etwas an den Hängen des Vulkans (selbst aus Montebello, wo es 1982 einen katastrophalen Erdrutsch gab, wollen sie nicht raus), ebenso, wie in den Siedlungen am Unterlauf des Rio Lempa (Bajo Lempa) und am Meer.

Die Berichte vom Bajo Lempa auf beiden Seiten des Flusses (Municipio Tecoluca am West- und Municipio Jiquilisco am Ostufer) sind jenen aus den Tagen des Hurrikans Mitch ziemlich ähnlich. Auch hier ist es längst nicht nur so, dass sich die Wasser, die aus dem Himmel stürzen, schließlich und natürlicherweise im Unterlauf eines Flusses ansammeln, sondern sind menschliche Hände im Spiel — und zwar nicht irgendwelche.

Am Bajo Lempa war es am Sonntag noch relativ ruhig. Zwar sammelte sich Regenwasser in kleinen Senken an und bildete große Pfützen, aber das tut es die ganze Regenzeit durch, zwar schwollen die Nebenflüsschen des Lempa hier im Unterlauf an, aber das Wasser drang nicht in die Häuser und die Leute suchten nicht das Weite.

Dann drang das Wasser vom Lempa selbst an jener Stelle des Flusses ins Land, wo die Regierung trotz vorhandener Mittel aus internationalen Zuschüssen keine Dämme gebaut hat (bzw. rekonstruiert hat, denn als die Gegend hier vor dem Krieg noch in Händen von Baumwoll-Großgrundbesitzern und Rinderkapitalisten war, gab es schon mal Dämme und Drainagen), und an jenen Stellen, wo die Dämme schlecht gebaut wurden und nicht genügend gepflegt werden.

Andererseits handelt es sich seit dem Wochenende um ganz erhebliche Wassermengen, weil die (noch) staatliche Elektrizitätsgesellschaft CEL die Schleusen der vier Wasserkraftwerke am Lempa öffnen muss, um Wasser aus den sich schnell füllenden Stauseen abzulassen. CEL hat das diesesmal relativ dosiert getan und vor allem darüber informiert, also weniger skrupellos gehandelt als damals bei Mitch. Aber selbst eine rücksichtsvollere Politik kommt nicht umhin, die Schleusen zu öffnen, weil sich die Stauseen bei anhaltendem Regen unheimlich schnell füllen. Und das wiederum hat damit zu tun, dass das ganze Wassereinzugsgebiet des Rio Lempa hochgradig degradiert ist. Auch hier infiltriert nur wenig Regenwasser und läuft zum Großteil, Erde mit sich reissend, an der Oberfläche in den Fluss — Erosion eben — und die Stauseen sind mangels Pflege über die Jahrzehnte mehr und mehr verlandet. Statt die Seen zu sanieren und das gesamte Wassereinzugsgebiet wieder systematisch zu begrünen, plant die Regierung ein weiteres Wasserkraftwerk am Lempa und zwei bis drei an seinem größten Nebenfluss, dem Rio Torola. Das rechnet sich besser als eine Sanierung und Revegetation und interessiert private Investoren mehr. Bis die neuen Wasserkraftwerke gebaut sind und dieselben negativen Auswirkungen haben werden wie die bereits bestehenden, muss sich CEL darauf beschränken, rechtzeitig Wasser abzulassen — die perverse Wirtschaftsordnung El Salvadors schlägt ihr Wasser ab.

Jetzt geht es auf Mitternacht zu. Es regnet immer noch. Ich habe den Eindruck, dass es weniger geworden ist. Aber den hatte ich in den letzten drei Tagen schon ein paar Mal und jedesmal war es eine Illusion. Angesagt sind noch 48 Stunden Regen, aber es könnte sich ja auch mal wiederholen, dass es wie bei den Hurrikanen Adrian und Rita dann doch weniger schlimm kommt. Wenn die Menschen, die in den albergues hocken oder unter Lebensgefahr zu Hause ausharren, schon keine effektive Hilfe der wieder großmäuligen ARENA-Regierung bekommen, könnten sie doch wenigstens mal Glück haben, oder?

Von Ulf Baumgärtner